Unsere Autoren

zur Biographie...Ivans (Pseudonym für Jacob van Schevichaven)

geb. in Sneek am 20. Juni 1866, gest. in s’Gravenhage am 20. Mai 1935, wuchs als Sohn eines Gymnasiallehrers auf, der später die Lebensversicherung Die Allgemeine mit Niederlassungen in der ganzen Welt gründete und betrieb. Auch Jakob arbeitete nach dem Jurastudium in Amsterdam und der Promotion (Dissertation über die gesetzlichen Grundlagen der Lebensversicherung) in der Allgemeinen und unternahm schon früh ausgedehnte Reisen ins Ausland, die ihm später als Schriftsteller zugute kamen. Zeitweise leitete er die Filiale in Budapest. Mit Vom Leben und Sterben. Vergangenheit und Gegenwart der Lebensversicherung schrieb er ein in viele Sprachen übersetztes Standardwerk. Im Zuge der Turbulenzen des 1. Weltkriegs, der russischen Revolution und des Untergangs der Donaumonarchie erlitt die Allgemeine Schiffbruch und Schevichaven verlor sein gesamtes Kapital. Erst nach Jahren, in denen er als Schriftsteller zu überleben versuchte, fand er eine neue Anstellung beim sog. Internationalen Kolonialbüro in Den Haag, einem Unternehmen, das kommunistischen Aktivitäten in den Kolonien entgegenarbeitete. Daneben arbeitete er für das Wirtschafts- und Arbeitsministerium in Den Haag.

Schevichaven alias Ivans (für J. van S.) begann seine literarische Karriere mit mäßigen Publikumserfolgen als Theaterschriftsteller. Dagegen war gleich sein erster Detektivroman (Der Mann aus Frankreich, 1917) ein riesiger Verkaufserfolg. Der Autor wurde dabei inspiriert von Sir Arthur Doyles Sherlock Holmes und dessen Kompagnon Dr. Watson, deren Rollen bei ihm Detektiv Geoffrey Gill und Rechtsanwalt Mr. Hendriks einnehmen. In den Niederlanden fieberte ein breites Publikum förmlich jeweils dem nächsten Detektivroman von >Ivans< entgegen. Sein Roman Der Mann im Hintergrund wurde in einer deutsch-niederländischen Koproduktion verfilmt und ein großer Kinoerfolg. 1923 schuf >Ivans< mit Miss O’Neill alias Miss Higgins die faszinierende Figur eines weiblichen Detektivs. Auch mit dieser Figur entstanden weitere Folgen. Insgesamt wurden von den zahlreichen Detektivromanen des Autors „nur“ sieben Romane ins Deutsche übersetzt, unverdientermaßen kam es zu keinen weiteren Übersetzungen. Denn vielfach übertrifft >Ivans< sein Vorbild Doyle, besonders in der Kunst, eine gespannte Atmosphäre des Rätselhaften zu erzeugen, und in der Gabe, Landschaften und historisches Kolorit sprachlich realistisch einzufangen. Verständlich deshalb, wenn Cor Docter 1997 in Grossiers in moord & doodslag schreibt: >... betrachte ich Ivans weiterhin als einen der allergrößten.<

zur Biographie...Leo Pleysier

geb. in Rijkevorsel / Flandern am 28. Mai 1945, zunächst Grundschullehrer in seinem Heimatdorf, in dem er noch heute lebt, verarbeitet in seinem Werk Einsamkeit, Angst und Sterben des modernen Menschen auf dem Hintergrund seiner flämischen Heimat mit stark autobiographischen Elementen.

Mit Wit is altijd schoon , das hier als deutsche Erstveröffentlichung vorliegt, gelang Pleysier der Durchbruch beim großen Publikum. Für dieses Buch erhielt der Autor den Ferdinand-Bordewijk-Preis und den Dirk-Martens-Preis. Hier erlebt ein Sohn das Sterben seiner Mutter. Dabei gelingt in einer einmaligen, anrührenden Mischung aus Distanz und Zuneigung die Verarbeitung des Todes. Das Buch ist in Flandern und den Niederlanden zu einem modernen Klassiker geworden. Dazu trägt entscheidend der mündliche Sprachgebrauch der einfachen Frau aus dem Volk bei, der in origineller Form realistisch beibehalten wird und nicht vom Erzähler unterbrochen wird. Diese Sprache ist nicht mehr Transportmittel, sondern selbst der Grundstoff der Persönlichkeit.

Pleysier erhielt außerdem für den folgenden Roman Der gelbe Fluss ist gefroren (Rowohlt) den Belgischen Staatspreis.

zur Biographie...Jan Jacob Slauerhoff

Inhaber des Van-der-Hoogt-Preises für niederländische Literatur und vielfach als bedeutendster niederländischer Dichter seiner Generation angesehen, wurde am 15.9.1898 in Leeuwarden geboren. Seinen frühen Wunsch, zur See zu fahren, konnte er sich zunächst nicht erfüllen, weil sein Vater auf einem Medizinstudium bestand, das er dann in Amsterdam absolvierte. In seiner Studentenbude richtete er sich eine Schiffskoje zum Schlafen ein und er fand einen Ausweg: er wurde Schiffsarzt. Er befuhr alle Weltmeere und in seinem literarischen Werk gibt es kaum etwas, was nicht mit seinem vagabundierenden Leben zur See zu tun hat. Dieses Leben erlaubte ihm, seine persönliche Abkehr von der normalen bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen.

Seine Karriere als Schriftsteller startete Slauerhoff 1933 mit dem Gedichtband Archipel. Hier und in seinen Erzählungen, die in den Bänden Het lenteeiland und Schuim en as erschienen, ist zentrales Thema das nicht zu stillende Verlangen des Vagabunden, Herumtreibers und Wanderers. Wem oder was dieser Herumtreiber nachjagt, ist in Worten schwer zu fassen, deutet sich nur immer wieder an in der indirekten Form, in der Slauerhoff meisterhaft durch knappe Skizzierungen von Landschaften und Menschen und halluzinatorische Eindrücke eine Atmosphäre der ungestillten Sehnsucht schafft und dabei eine immer gegenwärtige Melancholie erzeugt. Die ideale Frau ist dabei nur eine Station auf dem Weg der Sehnsucht.

In seinen persönlichen Beziehungen scheiterte Slauerhoff immer wieder. Die Verlobung mit einer Studentin wurde aufgelöst. Die Ehe mit einer Tänzerin dauerte nur sehr kurz, nachdem ein Kind nur tot geboren wurde. Dies stürzte Slauerhoff in tiefe Depression. Allein die eher freundschaftliche Verbindung mit der Tochter eines friesischen Dorfpfarrers überstand alle Wechselfälle seines Lebens. Gesundheitliche Probleme – Slauerhoff litt schon als Kind an Asthma, dazu kamen später Magenblutungen und nach seinen zahlreichen Schiffsreisen auch Malaria – führten in Verbindung mit einem nicht gerade von Abstinenz geprägten Lebensstil zu seinem extrem frühen Tod im Alter von 38 Jahren. Er starb am 5. Oktober 1936 in Hilversum. Das Unvollendete dieses Lebens hat die Faszination, die von seiner Biografie und seinem vielfach rätselhaften Werk ausgeht, nur noch verstärkt und dazu beigetragen, dass Slauerhoff bis heute in den Niederlanden zu den ganz großen Klassikern zählt.

zur Biographie...Carry van Bruggen

eigentlich Caroline Lea de Haan, war Tochter des jüdischen Kaufmanns und Küsters der jüdischen Gemeinde Izaak de Haan und der Betje Rubens, geb. am 1. Januar 1881 in Smilde, aufgewachsen in Zaandam in der Nähe von Amsterdam. Nach Depressionen und Heimaufenthalten starb sie am 16. November 1932 im Alter von 41 Jahren in Laren, vermutlich an einer Überdosis Schlaftabletten. Ihre jüngere Schwester Henriette wurde im KZ ermordet.

Carry v. Br. besuchte als Kind neben der normalen Schule den jüdischen Unterricht in der Synagoge und wurde als Mädchen in Handarbeiten ausgebildet, die sie ihr Leben lang hasste. Obwohl sie die jüdische Thora und hebräische Sprache besser lernte als viele Jungen, konnte sie nie die mit der Bar-Mizwa verliehene Stellung der Jungen erreichen (erst im Reformjudentum geändert). Ihre Kindheit ist geprägt von der Ausgrenzung und Geringschätzung durch die Nicht-Juden, vom Anderssein, das bei ihr einerseits den Drang der Abgrenzung von den Mit-Juden und das Streben nach Gleichheit mit den christlichen Nicht-Juden, andererseits aber auch ein stolzes Bewusstsein vom eigenen Ich und seiner Überlegenheit erzeugte. In dieser Spannung zwischen Minderwertigkeit und Überlegenheit liegt eine Erklärung für das bei Carry v. Br. zeitlebens bestimmende unruhige, nervös getriebene Moment. Sie fand immer nur kurzzeitig Ruhe, wenn die Einsamkeit durch Zuneigung durchbrochen war. Bleibendes Glück blieb für sie immer unerreichbar, am höchsten erfüllt sah sie das Glück nicht am Feiertag selbst, sondern am Tag davor, am Freitagabend vor dem Sabbat, also nur in der Erwartung und Sicherheit kommenden Glücks. Sie brach mit der orthodoxen Tradition ihres Elternhauses, die der Frau eine sehr untergeordnete Rolle zuwies, ohne – wie ihr Bruder – mit ihrem Vater persönlich zu brechen. In ihrem Roman De Verlatene  (>Der Verlassene [Vater]<,1910) thematisiert sie, wie Kinder aus einer jüdischen Familie sich assimilieren und von ihrem Vater entfremden. Ihr Bruder, der am 31. Dezember 1881 geboren und von ihr mit leichter Veränderung des tatsächlichen zeitlichen Abstandes zum Zwillingsbruder ernannt wurde, war der Schriftsteller und Politiker Jacob Israel de Haan, der 1924 in Jerusalem ermordet wurde. Er soll homosexuell veranlagt gewesen sein. Carry hatte ein sehr inniges Verhältnis zu ihm. In ihrem Roman Eva  spielt dieser sog. Zwillingsbruder in literarischer Überblendung eine herausragende Rolle.

Carry v.Br. wurde mit 18 Jahren Lehrerin an einer Armen-, später an einer Mädchenschule in Amsterdam. Seinerzeit gab es für die Kandidaten in der Lehrerausbildung eine Überprüfung auf ihre möglicherweise sozialistische Gesinnung. Diese Vorgänge wurden in ihren Romanen kritisch verarbeitet. Eine universitäre Ausbildung hatte sie nicht. Alles, was mit Universität zu tun hatte, blieb für sie zeitlebens etwas Fremdes, Arrogantes, ja Feindliches.

Äußerlich war sie eine nonchalant gekleidete, sehr schöne, schwarzhaarige Frau mit sprühenden Augen, klein und kernig, im Verhalten unkonventionell und mutig, für Männer höchst attraktiv. Sie soll kurzzeitigen Affären und Nebenbeziehungen nicht abgeneigt gewesen sein. In ihren Romanen spielen die leichtlebige Frau, der Flirt und die sog. allumé  immer wieder eine große Rolle. Wohlverhalten war nicht das, was man von ihr erwarten konnte. Bei ihren Vorträgen saß sie mit übereinander geschlagenen Beinen, was seinerzeit als völlig unmöglich galt, und rauchte, was man bei einer Frau ebenso wenig akzeptierte. Sie vertrat auch literarisch das Recht der Frau auf viele Männer und wirkte in ihrem irritierenden Freiheitsdrang seinerzeit wie ein Wesen von einem anderen Stern.

Eine Verlobung mit einem Lehrerkollegen löste sie 1901 auf, als sie den noch verheirateten Vater von zwei Kindern, den Journalisten und Schriftsteller Kees von Bruggen traf. Sie teilte mit ihm das Leben der Boheme im Amsterdamer Studentenviertel De Pijp. Sie heirateten 1904. Nachdem van Bruggen als Journalist seine Stellung verlor, verbrachte das Ehepaar drei Jahre in Indien, wo beide beim Deli-courant  journalistisch tätig waren. In Indien wurde auch Carrys erstes Kind geboren. In den Kreisen der konservativen niederländischen Kolonisten konnte das Paar mit seiner avantgardistischen Lebensart nicht wirklich Fuß fassen. Nachdem eine öffentlich beleidigende Kritik an Carrys Beiträgen erschien, reagierte diese mit der völligen Einstellung ihrer journalistischen Tätigkeit in Indien. 1907 kehrte das Paar nach Amsterdam zurück. Hier wurde 1908 das zweite Kind geboren. Die Ehe wurde zunehmend problematischer, wofür Dritte Carrys maßlosen Charakter verantwortlich machten. Höhepunkt war ein Selbstmordversuch Carrys, die ins Wasser ging. 1917 wurde die Ehe geschieden. Carry heiratete in zweiter Ehe 1920 den 21 Jahre älteren Museumsdirektor und Kunsthistoriker Dr. Aart Pit, der für sie die Liebe ihres Lebens war und für den sie ihre sonst propagierte Kritik an der bürgerlichen Ehe vergaß.

Politisch war Carry v. Br. vorübergehend Anhängerin des Sozialismus, wendete sich aber später von sozialistischen Ideen ab, da sie ihrer Meinung nach dem Wesen des Menschen nicht entsprachen.

Nachdem sie mit Theaterstücken im kleinen Kreis bereits Erfolg hatte und als Übersetzerin tätig war, gelang ihr 1912 der Durchbruch als Erzählerin mit ihrem psychologischen Roman Helen,  in dem sie den Konflikt der Frau zwischen ihren Rollen als Intellektueller und Geliebter verarbeitete und die Geschichte der Bewusstwerdung einer Frau in einer patriarchalen Gesellschaft beschrieb. Schon hier formuliert die Autorin ihre Stellungnahme für die Frau nicht als Stellungnahme gegen den Mann, sondern als Stellungnahme für die Möglichkeit, über die Geschlechterrolle hinaus zur Rolle des einen Menschen zu finden.

1914 folgte der Roman Eine kokette Frau, der vorab in der Zeitschrift Groot Nederland  erschien und in dem sie kaum verhüllt autobiographisch die Geschichte ihrer Ehe in einer Weise umsetzte, die von einem Teil der Öffentlichkeit als ungehörige Abrechnung  mit ihrem noch nicht geschiedenen Mann interpretiert wurde, aber ein Bestseller war.

1919 publizierte sie das philosophische Werk Prometheus, in dem sie versuchte, das Prinzip des absoluten Einen als Seinsprinzip auszudrücken, und zwar im dialektischen Widerspruch von Individuellem und Kollektivem, Einzelnem und Ganzen: alles hat die doppelte Tendenz, sich in seine ursprüngliche Einheit aufzulösen, wobei es sich selbst verlieren muss, andererseits aber auch, sich in seiner Besonderheit zu behaupten (C.v.Br. in einem Brief).

Mit Het huisje aan de sloot, einem Erzählband mit Episoden aus dem Leben eines Mädchens und ihres „Zwillingsbruders“,  errang sie 1921 bei der niederländischen Gesellschaft für Literatur den Preis für den besten Roman des Jahres. Von dieser Literaturgesellschaft trennte sie sich später im Streit. Dafür verzichtete die Gesellschaft nach ihrem Tod auch auf jeden Nachruf für die doch in ihrem Lande recht bedeutende Schriftstellerin.

Carry van Bruggen verdiente sich ihren Lebensunterhalt lange Jahre auch mit avantgardistisch orientierten Vorträgen über Literatur, Philosophie und Geschichte, teils in Volkshochschulen, teils in privaten Kreisen der Patrizier. Sie war eine sehr gefragte Rednerin aufgrund ihrer aufrührerischen Sprache und ihrer aufsehenerregenden Kritik. Obwohl sie die Etikette missachtete, fanden sie auch die Leute der anständigen höheren Kreise, die ihr inhaltlich und gesellschaftlich überhaupt nicht entsprachen, anziehend aufgrund ihres persönlichen Charmes, ihrer angenehm dunklen Stimme, ihrer gut gebauten, trotz der Länge immer auf den Punkt kommenden Sätze und nicht zuletzt gerade aufgrund ihres unkonventionellen und erotisch anziehenden Äußeren.

Daneben publizierte Carry v.Br. 1916-1918 in dem Amsterdamer Wochenblatt Dameskroniek  für die „gebildete Frau“. Die Mitarbeit wurde nach einem Artikel über den Chauvinismus in der Kunst beendet. In den 20-er-Jahren wurde sie Mitarbeiterin der Nieuwe Kroniek. Ihre extrem kritischen Beiträge zur Rolle von Eltern brachten ihr das Ende mancher persönlichen Beziehungen ein.

Der literarische Stil C.v.Bruggens entwickelte sich vom Naturalismus und Realismus der Frühzeit zu einer subjektiv gepägten, expresssiv-lyrischen Schreibweise. Ihre Philosophie und Ästhetik zog nachfolgende Autoren wie Menno ter Braak, die in ähnlicher Form Abschied von der Tradition der formalistischen und naturalistischen sog. Achtziger des 19. Jahrhunderts nahmen, besonders an.

C.v.Br. ist hier mit ihrem am meisten anerkannten Werk (Rückenwind des Verlangens, Original-Titel Eva ) vertreten, das in Form des Bewusstseinsstroms der Heldin die Bewusstwerdung und das Ringen einer Frau um Unabhängigkeit und Selbstbehauptung thematisiert. Es ist ein sehr erfolgreiches Meisterwerk des psychologischen Romans. Die Heldin erkennt als Endziel aller Weisheit, dem Tod ruhig entgegenzusehen. Die Autorin weiß dabei, dass der mystische Drang nach Einheit mit dem Absoluten als Form der erhabensten Menschlichkeit (Unio Mystica ) in der Lebensrealität nicht an sein Ziel kommen kann. Als Quelle der Kraft zum Leben entdeckt sie immer wieder die Fähigkeit, sich über einfachste Dinge wundern zu können. Dabei sieht sie sich aber auch dem aus ihrer Sicht unwürdigen Verlangen sinnlicher Liebe ohne Geist unwiderstehlich ausgeliefert. Gestalt gewinnen dieses Verlangen und der eigentlich gegensätzliche geistige Einheitsdrang in der Begegnung mit einem idealen Mann, typischer Weise zuerst in einem flüchtigen Blick bei konzertanter Musik, der den sinnlichen Genuss ästhetisch überhöht und die Prüderie aufhebt. Zentrale Symbole sind der (weite) Raum (der Himmelsluft), der das enge Haus der Beziehung überschreitet, aber zugleich auch das Haus als Zeichen des Geborgenen, sowie das Pendel, das im Leben ewig sich bewegt von einer Seite zur anderen, von der negativen zur positiven Seite und nur sehr kurz zu einem Gleichgewicht kommt. Zuletzt schlägt es zu der reinen höchsten Liebe, der völligen willenlosen und ziellosen Hingabe für einen einzigen Lebenstag aus, zu einer Harmonie, die nicht bleiben kann, weil, solange man lebt, es keinen Zugang zur Totalität der Unio mystica gibt. Dabei wird das früher in der Literatur negativ besetzte körperliche Verlangen nun zu einem positiven Moment, indem es das Dogma, dieses Verlangen werde nur durch Liebe gut, umkehrt: die Liebe wird nur gut durch das körperliche Verlangen. Die überall für Carry v.Br. kennzeichnende Melancholie hat ihren Grund in dem schnellen Verlust solcher Harmonie. Punktuell gelingt aber hier die Synthese der Vollendung der Frau zum idealen Menschen, die Überbrückung der Kontrapunkte von Geist und Sinn, Intellekt und Lust des Lebens, Zweifel und Demut, Verzweiflung und Lebensakzeptanz, Mann und Frau in der dauernden Bewegung von Fühlen und Erleben, neu erleben, anders erleben, wachsen und werden und sterben – meditativ, suggestiv, kindlich-naiv konkret.

Ihr Stil ist magisch, schleift die Leser ungewollt mit ins Unbewusste des All-Einen. Ereignisse, Vorgänge spielen kaum eine Rolle, Zustände werden nur angedeutet in der Wirkung auf das Bewusstsein der Heldin, Personen bleiben äußerlich nebulös. C.v.Br. ist die Expressionistin, ohne dass sie selbst oder ihre Zeitgenossen jemals diese Kategorie verwendet hätten. In ihrem expressiv-lyrischen Stil war sie  bahnbrechend für die Literatur ihres Landes.

(Vgl: M.-A. Jacobs, Carry van Bruggen. Haar leven en literair werk. Gent 1962)

zur Biographie...Jürgen Sternsdorff

geboren 1944 in Leer, studierte Germanistik, Geschichte und Sozialwissenschaften an den Universitäten Tübingen, Münster, Hamburg und Marburg und legte 1974 sein erstes Staatsexamen ab. Der Autor arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Marburg und promovierte mit einer Biographie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Nach einer Ausbildung als wissenschaftlicher Bibliothekar in Bremen und Frankfurt und dem zweiten Staatsexamen für das Lehramt war er in der Erwachsenenbildung in Ostfriesland und als Lehrer an Gymnasien in Vorpommern und Hessen tätig. In dieser Zeit schloss er eine Zusatzausbildung zum Religionslehrer ab.

zur Biographie...Menno ter Braak

Menno ter Braak, wurde am 26.1.1902 als Sohn des Arztes Hendrik ter Braak und der Geertruida Huizinga in Eibergen geboren. Unter seinen taufgesinnten mennonitischen Vorfahren waren viele Prediger, mütterlicherseits ist er verwandt mit dem berühmten Historiker Johan Huizinga (Herbst des Mittelalters). Menno selbst promovierte mit einer in Deutsch geschriebenen geschichtlichen Dissertation über Kaiser Otto III.

Väterlicherseits war der introvertierte Menno ter Braak mit der Neigung zu Depressionen belastet. Sowohl sein Großvater als auch sein Vater nahmen sich wie er später selbst das Leben. Seine Mutter war demgegenüber extrovertiert, sozial und politisch aktiv, aber emotional stark unterkühlt und konnte ihre Gefühle nie direkt äußern. Sein Zuhause blieb ohne Wärme und war charakterisiert durch eine Atmosphäre des verbalen Schlagabtausches. Menno wurde wie seine Geschwister zum Wohnen und zur Ausbildung aus dem Arzthaushalt zu Verwandten geschickt. Er wuchs in der kleinen Handelsstadt Tiel am Waal auf. Von seinen Pflegeeltern übernahm er den Hang zur auffällig vornehmen und modischen Kleidung und zum Mondänen, mit dem er sich früh von den Dorfkindern elitär absetzte. Die ersten Gymnasialklassen schloss er als Klassenbester ab. In der anschließenden pubertären Rebellion gegen jede feste Ordnung sah er auch später ein nie überholtes Modell für das Leben überhaupt. Früh brach er mit der liberalen Religion vom lieben, schlaffen Gott, die sein Elternhaus kennzeichnete (Abschied vom Domineeland ).

Früh engagierte sich Menno ter Braak radikal politisch-literarisch als Mitarbeiter der örtlichen Schülerzeitung nach dem Prinzip "alles oder nichts". Obwohl vom Ritus der Aufnahme in das Studentencorps geflüchtet, der ihn in barbarischer Form seine physische Unterlegenheit fühlen ließ, wurde er später anerkanntes Mitglied der Verbindung und Mitarbeiter der satirischen Korpszeitung Propria Cures, in der schon sein literarisches Vorbild Slauerhoff (in dt. Übersetzung vertreten im VVV-Verlag mit Schaum und Asche ) mitgearbeitet hatte. Seine Negativität war stets konstruktiv gerichtet: Um neue, unbekannte Wege zu finden, muss man alte Mauern einreißen. Mittel war für ihn der literarisch-politische Essay in polemischer Haltung, in dem er sich zu einem anerkannten Meister mit großem Einfluss auf eine ganze Generation von jungen Journalisten entwickelte. An oberster Stelle stand für ihn die individuelle Freiheit. Sehr früh bekämpfte er dabei den italienischen und deutschen Faschismus und wurde in den 30-er-Jahren zu einer der bekanntesten Gallions-Figuren des Antifaschismus. Während er zeitweise aufgrund der Betonung eines (elitären) Individualismus der Demokratie in kultureller Hinsicht kritisch gegenüber stand, weil für ihn ein Paradox zwischen gewährter individueller Freiheit und deren Gefährdung durch "Gleichmacherei" bestand, war doch die entschiedene öffentliche Parteinahme für die politische Demokratie im Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus für ihn ohne Alternative. Sozialistische Tendenzen lehnte er allerdings als kollektivistisch strikt ab.

Ter Braak galt als besonders prüde, ja antisexuell. Seine Beziehung zu Ine Sjoukes scheiterte 1922 angeblich noch am katholischen Glauben der Frau. Danach hatte er ein Verhältnis zu der zehn Jahre älteren verheirateten Frau Planten-Koch, die drei Kinder hatte und die er als "echte Mutter" verehrte, wobei ihn die Umstände dieses Verhältnisses zugleich abstießen und anzogen. Obwohl es eine körperlich-intime Beziehung wohl nie wurde, gelang ihm sehr lange keine Distanzierung. Eine freundschaftliche Beziehung entwickelte Ter Braak zu Carry van Bruggen, deren Roman Eva (dt. Rückenwind des Verlangens im VVV-Verlag) er 1928 enthusiastisch rezensierte, wobei er die gelungene Synthese der Frau als Intellektuelle, Liebhaberin und Mutter bei van Bruggen pries. 1929 verlobte er sich mit einer 18-jährigen Schülerin, die allerdings früh bei ihm die Abwesenheit von Erotik feststellen musste. Unversöhnliche Anschauungen über die Freiheit in der Liebe und eine Buch-Widmung an seine vormals angebetete Frau Planten-Koch beförderten die Auflösung auch dieser Beziehung schon im folgenden Jahr. Ter Braak reagierte auf das Zerbrechen einer Beziehung stets mit der sofortigen Reise in sein Heimatdorf zu seinen Eltern (vgl. auch die hier vorliegende dt. Übers. von Hampton Court ). Ende 1930 ergab sich eine Beziehung zu der 11 Jahre jüngeren Gerda Geissel, die Verlobung erfolgte im Februar 1931. Ter Braak suchte in ihr die nichtintellektuelle, einfache Frau. Die geplante Hochzeit im April 1931 verhinderte nicht, dass auch diese Beziehung vorzeitig endete, wobei der Wahrheitsgehalt von Ter Braaks eigenem "Argument" dafür, er sei "impotent", offen bleiben muss. Ende 1931 traf der Autor Ant Faber, eine Pastorentochter, die seine Frau und die Stütze in seinem Leben wurde (Heirat August 1932). Angeblich wollten sie keine Kinder und klammerten das Körperliche aus.

1925 wurde Ter Braak Mitarbeiter der Kulturzeitschrift De vrije Bladen. Seit den 20-er-Jahren entwickelte sich Ter Braak zu dem gefragten Fachmann für den entstehenden europäischen Kunstfilm (Fritz Lang, russ. Schule), den er in scharfem Gegensatz zum kommerziellen Hollywood-Film des kitschigen Massengeschmacks sah. Bahnbrechend war seine Studie Cinema militans von 1929. Ab 1931 sorgte er als Mitarbeiter der Literaturzeitschrift Forum zusammen mit Slauerhoff und Du Perron für eine Abkehr der niederländischen Literatur vom Ästhetizismus. Künftig sollte nicht mehr die Form, sondern der Inhalt, die Persönlichkeit in ihrer absoluten Existenz und das gesellschaftliche Engagement bestimmend sein. Das Angebot, Mitglied der Niederländischen Gesellschaft für Literatur zu werden, lehnte Ter Braak aus "prinzipiellen Gründen" ebenso ab wie vorher Slauerhoff (Literatur sei Liebhaberei, wie beim Trinken von Alkohol bedürfe es dazu keiner Organisation). Ende 1933 wurde Ter Braak Feuilleton-Redakteur der gutbürglichen Tageszeitung Het Vaderland, die damit eine links-liberale Richtung einschlug. Als ihm dieses Blatt wegen seiner entschiedenen politischen und antikonfessionellen Haltung 1939 einen Maulkorb verpasste, kündigte er. Im gleichen Jahr war er auch Redakteur bei den Vrije Bladen geworden. Zwischenzeitlich sicherte er seinen Unterhalt jeweils durch Tätigkeiten als Lehrer.

Kritisch stand Ter Braak der Fähigkeit der Sprache gegenüber, die paradoxe Lebensspannung zwischen Bindung und Freiheit und das Rätselhafte des Lebens angemessen ausdrücken zu können. Das einzige Mittel, sich diesem Rätsel bzw. der stets mysteriösen Wahrheit verbal wenigstens zu nähern, sah er in symbolisch-archaischen Worten und Allegorien. Das Gleichnis, das eigentlich das Mysteriöse verdeutlichen soll, bleibt aber doch ständig auf seiner Ebene und kann dieses Mysteriöse nicht völlig auflösen. Immerhin kann die Allegorie annähernd etwas erhellen, was in wissenschaftlicher Sprache nicht auszudrücken ist. Wahrheit ist nicht in Worten erreichbar, nur indirekt anzudeuten durch Ironie, Satire, Allegorie und durch das Paradox als höherer Wahrheit. Mit seinem Vorbild Carry van Bruggen sieht er im Motiv des Augenaufschlags als unmittelbarem Kontakt von Mensch zu Mensch ein Symbol für die Einheit von Denken und Leben, während Worte nur von dieser Einheit wegführen. Diese Wahrheit überschreitet die Vernunft bis hinein in den Bereich des tragischen Wahnsinns und Erschreckens vor dem Nichts. Erst in der Zulassung des Todes im Leben selbst bzw. in der Vereinigung von Tod und Leben als einer Art dämonischer Liebe und Wahnsinn ist dichterische Entgrenzung möglich, weil hier erst alle Unterscheidungen des Individuums von den Anderen und sich selbst wegfallen in einem alles aufsaugenden Nichts. Dabei ist die handelnde Figur wie der Leser Teilnehmer und Zuschauer zugleich. Denken und Fühlen treten auseinander. Der Mensch besteht nur noch in Gegensätzen, er wird die ersehnte Einheit nie erreichen. Versuche dazu enden immer in einer Niederlage. Die helle Flamme des Lebens wird stets zur Asche.

Mit Hitlers Machtergreifung sah Ter Braak über Europa die Nacht einbrechen. Schon 1933 verabredete er mit seiner Frau, dass er im Falle einer Machtübernahme der Nazis in Holland seinem Leben ein Ende setzen werde. Als antifaschistischer Publizist hatte er freundschaftliche persönliche Kontakte mit Thomas Mann und Erika Mann. Er half geflohenen Juden finanziell und gegen den herrschenden Trend und die Leisetreterei der niederländischen Regierung auch bei Publikationen von Flüchtlingen. Erika Manns Kabarett wurde 1935 in den Niederlanden lange vor der deutschen Besetzung wegen Beleidigung des Führers einer befreundeten Nation verboten. Ter Braak bekundete auch seine Verehrung für den Führer der Sozialdemokraten in Österreich, der im Kampf gegen die rechte Dollfuß-Regierung zum Tode verurteilt worden war und geistlichen Beistand vor der Hinrichtung verweigert hatte, weil er auch im Tod Sozialist bleiben wollte. 1935 beteiligte sich Ter Braak an einer anitfaschistischen Menschenkette von 50000 Demonstranten.1936 trat er führend im Komitee der Wachsamkeit gegen den Nationalsozialismus auf und beteiligte sich an dem Buch Schriftsteller gegen Krieg und Militarismus. Später schloss er sich der parteiübergreifenden Bewegung Einheit durch Demokratie an. Trotz Drohungen durch die niederländischen Faschisten hielt er 1936 einen Vortrag für die Ausstellung Die Olympiade unter der Diktatur mit Dokumenten über die Judenverfolgung und die KZ's in Deutschland. Die Ausstellung wurde von den niederländischen Behörden zensiert. Die Gestapo in Berlin sammelte bereits jetzt die Wohnadressen der Teilnehmer. Der Name "des links gerichteten" Menno ter Braak stand dick unterstrichen in den Gestapo-Dossiers. Entsetzte Apathie folgte dem Anschluss Österreichs 1938, Wut dem Verhalten Chamberlains in München beim Abkommen über die Tschechei. 1939 schrieb Menno ter Braak über einen von ihm in Arbeit befindlichen Roman, er werde diesen noch im selben Jahr beenden können, es sei denn, Hitler werde schon vorher in Holland einmarschieren. Niemand in seiner Umgebung außer ihm selbst rechnete wirklich damit. Im April 1940 trat er zum letzten Mal öffentlich auf. Er war Sprecher der Stiftung zur Verteidigung der Rechte der Juden geworden, die von der christlichen niederländischen Regierung bei einem Grenzübertritt nach Holland zunehmend Probleme zu erwarten hatten. Als Redner war er gefragt und hatte auf jüngere Anhänger einen so großen Einfluss, dass ihm sogar vorgeworfen wurde, für den Selbstmord der Schwester des Schriftstellers W.F. Herman direkt nach dem deutschen Überfall auf Holland 1940 durch seine angeblich übertreibenden Warnungen verantwortlich zu sein, die Panik und den Mythos der Unbesiegbarkeit der Deutschen erst erzeugt hätten. Seit der Rheinland-Besetzung hatte Menno ter Braak das Gefühl, dass der Wahnsinn des NS jeden Moment über Holland hereinbrechen könne. Das führte auch zu immer stärkerer Lähmung seines literarischen Schaffens. Nach einem Treffen mit Thomas Mann in Den Haag 1939 rezensierte er Anfang 1940 dessen Lotte in Weimar. Mann lobte diese Rezension als Glanzstück in einem Brief an Ter Braak vom 8. Mai 1940, zwei Tage vor dem deutschen Überfall, dabei seine Erwartung ausdrückend, dass das Abenteuer der Nazis in Europa missglücken werde. Als der Brief in Holland eintraf, war Menno ter Braak bereits tot. Er hatte am 15. Mai mit Hilfe seines Bruders, der Arzt war, Selbstmord begangen, weil er sich ein Leben unter dem NS nicht vorstellen konnte. Er hatte die Hoffnung, so lange zu leben, "bis Hitler hängt", aufgegeben.

(Zusammengestellt vom Übersetzer nach: Léon Hanssen, Menno ter Braak1902-1940. Leven en werk van een polemist. Amsterdam: Meulenhoff 2003.)

zur Biographie...Gerrit Herlyn

Gerrit Herlyn, geb. 1909 in Klein-Midlum, gest. 1992 in Leer, Pastor in Ihrenerfeld und in Leer, Schriftleiter des Sonntagsblatts für reformierte Gemeinden, Leiter des Diakonischen Werks und Mitglied der Synode der EKD, ist weit über Ostfriesland hinaus auch als Schriftsteller bekannt geworden. Neben der Herausgabe des Hochdeutsch-Plattdeutschen Wörterbuchs übersetzte er das Neue Testament und die Psalmen ins Plattdeutsche, hielt in seiner Heimatsprache Rundfunkandachten und verfasste zahlreiche kleine Schriften, die sich durch Weisheit und Humor auszeichnen und für die die Verankerung im Alltagsleben der sog. einfachen Leute charakteristisch ist. Alljährlicher Höhepunkt seiner Tätigkeit, des Gemeindelebens und der lebendigen Pflege und Feier des Plattdeutschen waren die Silvester-Gottesdienste in der Großen Kirche in Leer von 1952 bis 1991.